Ein normaler Abend. Mutter hatte Kopfschmerzen. Fikret, der
Große, sah sich die Werbung vor der Abendschau an. Nahide
saß auf Vaters Schoß und zeigte ihm ihre ersten
Schreibübungen. Selda bereitete in der Küche das Abendessen
vor. Es klingelte. Alle sahen zur Tür. Nahide sprang auf und
rannte in den Flur.
"Kim o?" fragte sie, und als nicht gleich eine Antwort kam noch einmal:
"Kim o?"
"Wir sind gekommen, um mit Ihnen über Gott zu sprechen",
tönte es gedämpft durch die Tür. Nahide öffnete,
sah zwei junge Männer, beide mit Schlips, einer so dick wie zwei,
der andere blond.
"Guten Tag, mein Name ist Schröder", sagte der Blonde. Nahide
ließ die Tür offen stehen, lief den dunklen Flur entlang,
rufend:
"Anne, iki tane alman geldi - zwei Deutsche sind gekommen."
Selda sah aus der Küchentür, nickte den Beiden, die auf dem
Fußabtreter standen, zu und zog den Kopf wieder ein. Aus dem
Wohnzimmer kam die Mutter. Im Gehen band sie sich das Kopftuch um, an
der Tür sagte sie:
"Ja?"
"Guten Tag, mein Name ist Schröder", begann der Blonde.
"Ich weiß nicht", sagte Mutter, "ich hole meinen Mann."
Sie ging fort, rief ihren Mann:
"Serdal, da sind zwei deutsche Männer."
Der Vater stand auf, ging zur Tür, sah die beiden fragend an und sagte:
"Buyrun."
"Guten Tag, mein Name ist Schröder", sagte der Blonde." Und das
ist Herr Freudiger. Wir sprechen heute mit den Menschen über Gott.
Glauben Sie an Gott?"
"Natürlich", sagte Serdal Kaya. "Bitte kommen Sie rein."
Der Dicke und der Blonde traten ein, blieben stehen. Serdal, der Vater,
ging voran ins Wohnzimmer. Fikret und Sengül, die Mutter, erhoben
sich. Die Gäste setzten sich auf das Sofa, direkt neben den
Farbfernseher. Fikret gab beiden die Hand.
"Selda, cay yap", rief der Vater. "Mach Tee."
"Wir möchten gern mit anderen Menschen über Gott sprechen und über Gottes Wort, die Bibel."
"Aber bitte sehr", sagte der Vater. Sengül Kaya kam mit der
Kolonyaflasche, die Gäste zu begrüßen. Die beiden
Männer sahen sie ratlos an.
"In die Hände", sagte Fikret. "Das kennen Sie nicht. Das macht man bei uns so."
Er streckte beide Hände aus, seine Mutter goß ihm einige
Spritzer Kölnisch Wasser hinein. Fikret rieb damit seine
Hände, tupfte sich den Nacken, genau beobachtet von Herrn
Schröder und Herrn Freudiger. Beide hielten sie die Hände wie
ein Schüsselchen hin, Sengül Kaya goß erst dem dicken
Herrn Freudiger das Wasser mit dem Zitronensaft in die Hände, dann
dem anderen - soviel, daß es auf den Teppich tropfte, sie war ja
nicht geizig. Mit ernsten Gesichtern rieben sie sich die Hände,
sahen sich kurz an. Bevor Herr Freudiger etwas sagen konnte, fragte
Serdal Kaya:
"Wie gehts?"
"Danke gut. Und Ihnen?"
"Danke. Und wie gehts Ihnen", fragte Serdal nun Herrn Schröder.
"Danke gut. Wir sind gekommen, um mit Ihnen über Gottes Wort, die Bibel, zu sprechen."
"Ja, wir wissen schon alles", sagte der Vater. "Das steht alles im Koran."
"Möchten Sie Tee oder Kaffee?" fragte seine Frau.
"Nein danke", sagte Herr Schröder. "Das ist wirklich sehr nett von IHnen."
Sengül wandte sich an ihren Mann und fragte auf türkisch:
"Was denn nun? Tee oder Kaffee?"
Fikret saß im Sessel an der anderen Zimmerwand und hörte zu. Selda steckte den Kopf ins Zimmer.
"Das Teewasser kocht gleich", sagte sie.
Herr Freudiger holte tief Luft:
"Wußten Sie, daß Gott einen Namen hat?"
"Gott hat 99 Namen."
"Das sind keine wirklichen Namen. Sie sind nur eine Aufzählung der
Eigenschaften Gottes, der Allmächtige, der Barmherzige und so
weiter."
Herr Freudiger hatte Schweißperlen auf der Stirn. Serdal sah ihn
zwar an, fragte aber währenddessen seine Frau auf türkisch,
wo die Marlboros seien. Sie brachte eine Schachtel. Serdal öffnete
sie und bot an.
"Nein danke", sagte Herr Schröder. "Das ist wirklich sehr nett von Ihnen."
"Rauchen Sie keine Marlboro? Warten Sie, wir haben auch Benson. Oder Camel."
"Nein danke", sagte Herr Freudiger. "Wir sind Nichtraucher."
"Gut", sagte Serdal, mit dem Kopf nickend. "Gesund."
Herr Freudiger fuhr fort:
"Der Name Gottes ist Jehova. Darf ich Ihnen mal was aus der Bibel vorlesen?"
Er blätterte in der Taschenbibel mit Goldschnitt. Die Mutter fragte Herrn Schröder:
"Und wie geht es Ihrer Frau?"
"Ich bin nicht verheiratet."
"Ach. Schade."
Herr Freudiger hatte die Stelle gefunden. Er richtete sich auf und
öffnete den Mund. Selda brachte ein Tablett mit vier kleinen
Gläsern herein, die gefüllt waren mit heißem Tee.
...
Dieser Text
ist ein kurzer Einblick aus dem Vortrag. Die
Vorträge der Literaturveranstaltung werden
zu einer Dokumentation zusammengefasst.